AUFBRUCH NACH ANDERSWO
Ein Portrait über Menschen in einem Berliner Gefängnis. Wovon träumen Personen, die kein Teil der Gesellschaft und des sozialen Lebens sind?
Einschluss, euer Ehren!
Jeden Abend um 19.30 Uhr werden die Schotten des JVA Tegel dicht gemacht und jeder Sträfling sich selbst überlassen. Was in dem Kopf eines solchen vorgeht hat Regisseur Adrian Figueroa in seinem Film „Anderswo“ zum Ausdruck gebracht. Monatelange Dreharbeiten, tiefgründige Interviews und eine Menge Zigaretten später, sitzen einige der Häftlinge in der Alten Kantine Wedding und sind zu Gast auf ihrer eigenen Filmpremiere. Nervöses Getuschel und Gelächter verrät, dieses Ereignis lässt keinen kalt. Auch mich nicht. Mir wird eher ein bisschen heiß, als ich dem ersten Gefangenen vorgestellt werde. Je nach Führung dürfen die Sträflinge nämlich einmal im Monat einen Tag frei nehmen. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Umgeben von Gesetzwidrigen
Das Gute ist, man weiß nicht wer der Anwesenden für welches Verbrechen eingesperrt ist. So hat man die Möglichkeit unvoreingenommen und neutral den Menschen hinter einer Übeltat wahrzunehmen. In der stillen Hoffnung keinem Vergewaltiger freundlich die Hand geschüttelt zu haben nimmt der Abend seinen Lauf. Die Filmpremiere ist gut besucht, sogar der Gefängnisleiter der JVA Tegel ist anwesend. Martin Riemer erinnert an einen Schulleiter, der die Rabauken aus den Klassen mit Autorität und Freundlichkeit nachsitzen lässt. „Nach dem Film hat man ein ganz neues Bild von den Insassen. Diese neue Seite an ihnen habe ich bisher noch nicht kennengelernt.“ so Riemer in der Diskussionsrunde im Anschluss an den Film.
Übliche Dokumentationen über Gefängnisse und ihre Insassen hätten das Thema wahrscheinlich durch einen lyrischen Zeigefinger umgesetzt. Schaut alle her, die bösen Jungs haben Banken ausgeraubt, ihre Frauen misshandelt oder sogar andere Menschen umgebracht. Jetzt werden sie endlich bestraft, diese armen Irren! Figueroa jedoch streckt denjenigen die Hand aus, denen von der Gesellschaft sonst nur der Rücken zugewendet wird. Mit Erfolg, denn auch Verbrecher, Mörder und Psychopathen sind Menschen, die Visionen haben, träumen und der Realität entfliehen. Vor allem um diese Fluchten geht es in dem Portrait, wo acht Insassen in Szene gesetzt wurden. Sie wollen hoch hinaus bis zu den Sternen, tief hinein in sich selbst oder einfach nur weit weg. Wohin ihre Gedanken und das Unterbewusstsein sie auch trägt, fest steht: Im Gefängnis wollen sie nicht bleiben.
Ein Gefängnis als Kulturinstitution
In Zusammenarbeit mit dem Gefängnistheater aufBruch ist ein 30-minütiger Film entstanden, dessen Niveau und Thematik auch die Jury der Hofer Filmtage begeistern konnte. Zurecht, denn was in „Anderswo“ dargestellt wird berührt den Betrachter und erzeugt Empathie an Stellen, wo sonst nur Ablehnung und Unverständnis hingelangen. Die kulturellen Arbeiten, wie Theaterstücke, HipHop Workshops oder ähnliche Projekte sind für die Straftäter ein wichtiger Bestandteil des alltäglichen Lebens in Gefangenschaft. Vor allem die intensiven Dreharbeiten haben die Perspektive und die Selbstwahrnehmung der Protagonisten geschärft. Der Film hat den Männern dabei geholfen, sich selbst besser zu reflektieren und sich klarer darüber zu werden, was sie in Zukunft mit ihrer FREIEN Zeit anstellen wollen.
Die Freiheitseinschränkung der Protagonisten hat die Dreharbeiten nicht nur räumlich sondern auch inhaltlich vor eine Herausforderung gestellt. Till Egen, Kameramann des Projekts und ein guter Freund von mir, schildert die Gegebenheiten im Vergleich zu anderen Filmen: „Dokumentarische Arbeiten finden immer auf Augenhöhe statt. Das ist extrem wichtig, wenn man gute Interviews und die Persönlichkeit der einzelnen Protagonisten darstellen möchte. Bei „Anderswo“ haben wir eine Vereinbarung unterschrieben, in der ganz klar festgelegt war, dass es im direkten Umgang mit den Insassen gewisse Grenzen geben muss. Dadurch war ich zum ersten mal auf einigen Ebenen limitiert. Das fiel mir zunächst relativ schwer. Nach wenigen Tagen hinter Gittern lernte ich jedoch mich innerhalb der mir auferlegten sozialen Barrieren zu bewegen.“
Rollenspiele hinter Gittern
Eine zentrale Thematik der Dokumentation sind verschiedenen Rollenbilder, die tagtäglich von den Insassen gespielt werden. Und zwar nicht nur schauspielerisch, sondern im echten Leben. Es handelt sich um ein gesellschaftliches Phänomen, das wohl nicht nur Sträflinge kennen. Wir alle haben unterschiedliche Facetten, passen uns an und sind jemand anderes. Insbesondere wenn man Zeit mit der Familie, den Freunden, Partnern, Kindern oder Vorgesetzten verbringen, merkt man die Versionen seiner selbst. Wenn man die acht Darsteller über ihr Leben sprechen hört, entwickelt man ein tiefgreifendes Verständnis dafür, das Menschen leicht vom richtigen Weg abkommen können, wenn sie einmal in die falsche Rolle schlüpfen, um sich oder anderen etwas zu beweisen. Ich hoffe für die Jungs, dass sie für die Zukunft genug Zeit mit sich verbracht haben, wissen wer sie wirklich sind, was sie können und wollen, um nie wieder in ihre alten Rollen verfallen zu müssen.